Karin Lindner2025-05-272025-05-272025https://dspace.ub.uni-siegen.de/handle/ubsi/6954Die Fähigkeit des mentalen Zeitreisens ist für uns völlig alltäglich. Selten bis nie reflektieren wir im Alltag darüber, wie viel Erinnern und wie viel Imaginieren wir im Verlauf eines Tages erleben, wie geprägt unser gegenwärtiges Denken und Handeln von vergangenen Erfahrungen und zukünftigen Zielen ist. Würde aber diese Fähigkeit Schaden nehmen, wie es z. B. im Fall von Demenzerkrankungen eintreten kann oder sogar wegfallen, stellt sich die Frage: Wer wären wir ohne unsere Erinnerungen und ohne unsere Wünsche, Erwartungen und Ziele? Über mentales Zeitreisen nachzudenken bedeutet also, über eine Fähigkeit nachzudenken, die uns Menschen als Menschen ausmacht. Kant hat allerdings weder viel über Erinnerungen und Imaginationen geschrieben, noch hat er die Psychologie als Wissenschaft gesehen. Indem sich auf die rekonstruierte Wahrnehmungstheorie von Kant bezogen wird und die transzendentalphilosophische Subjektivitätstheorie, wie sie von Gerold Prauss (1990 ff.) entwickelt wurde, zu Grunde gelegt wird, kann Kant und kantisches Vokabular auch in einer modernen Debatte über mentales Zeitreisen herangezogen werden. Kants Wahrnehmungstheorie muss dafür zunächst ergänzt werden, um die Komponenten des Vergangenen wie auch des Zukünftigen. Diese Ergänzung ist genau genommen eine Weiterentwicklung der kantischen Theorie, da sie empirische Befunde ernst nimmt und diese, mittels kantischem Vokabular, aufnimmt. Die Art und Weise, wie wir Erinnerungen und Imaginationen erzeugen, ist dieselbe. Wir benötigen bei beiden Akten produktive Einbildungskraft, um eine andere Zeitform als die der Gegenwart zu erzielen. Und wir benötigen bei beiden Akten reproduktive Einbildungskraft, um uns ein Objekt/ein Ereignis gegenständlich zu machen. Episodisches Erinnern und Imaginieren bedeutet, dass es um Ereignisse meiner Vergangenheit und Zukunft geht und nicht um die von irgendjemandem. Ausschlaggebend dafür, dass ich eine Erinnerung bzw. eine Imagination als meine annehme, ist mein Bewusstsein: als Selbstverwirklichungs- wie auch Fremdverwirklichungsbewusstsein (Friebe 2005) in der ursprünglichen Wahrnehmung, als Fremd- wie auch Selbstverzeitlichungsbewusstsein in der Erinnerung und Imagination. Letzteres kann nur aktiviert werden, wenn es überhaupt eine Erfahrung gibt, auf die ich mich beziehen kann, von der ich etwas ableiten kann – ob als Erinnerung oder als Imagination. Beide Akte beruhen auf der Fähigkeit eines Subjekts, reflektieren zu können. Damit ist mentales Zeitreisen zunächst nur erfahrenen Subjekten zugänglich, die diese Akte bewusst anstreben. Allerdings sind Erinnerungen in einem höheren Maße irrtumsanfällig. Die in dieser Arbeit beschriebenen Irrtumsmöglichkeiten zeigen daher auch die Unterschiede zwischen Erinnern und Imaginieren auf. Diese Unterschiede können weitere Perspektiven in die Debatte um mentales Zeitreisen einbringen, die noch stark von zwei gegensätzlichen Theorien beherrscht wird: Kausaltheorien und Simulationstheorien. Die erweiterte Subjektivitätstheorie erweist sich als eine hybride Theorie.The ability to mentally travel in time is something we take for granted every day. In everyday life, we rarely or never reflect on how much remembering and how much imagining we experience in the course of a day, or on how our current thoughts and actions are shaped by past experiences and future goals. However, if this ability were damaged or even disappeared, as can happen in the case of dementia, for example, the question arises: who would we be without our memories and without our wishes, expectations, and goals? Therefore, thinking about mental time travel means thinking about an ability that defines us as human beings. However, Kant did not write much about memories and imagination, nor did he consider psychology to be a science. By referring to Kant's reconstructed theory of perception and using the transcendental philosophical theory of subjectivity (transzendentale Subjektivitätstheorie) as developed by Gerold Prauss (1990 ff.) allows us to incorporate Kant and Kantian vocabulary into a modern debate on mental time travel. Kant's theory of perception must first be extended to include the components of the past and the future. Strictly speaking, this addition is a further development of Kant's theory, as it acknowledges and incorporates empirical findings using Kantian vocabulary. The way in which we generate memories and imagination is basically the same. We need productive imagination (produktive Einbildungskraft) in both acts in order to achieve a time frame other than the present. We also need reproductive imagination (reproduktive Einbildungskraft) for both processes in order, to represent an object or event. Episodic remembering and imagination are about events in my past and future, not anyone else's. The decisive factor in my accepting of a memory or an imagination as my own is my consciousness. Based on a form of my self-awareness that is considered actual as well as the awareness that others (objects, events...) are actual (Selbst- / Fremdverwirklichungsbewusstsein, Friebe 2005) in the original perception, my remembering and imaging counts as a form of my self-awareness that can place itself and others in different times (Selbst- / Fremdverzeitlichungsbewusstsein). The latter can only be activated if there is any experience at all to which I can refer, from which I can derive something - whether as a memory or an imagination. Both acts are based on the subject's ability to reflect. This means that mental time travelling is initially only accessible to experienced individuals who consciously strive to perform these acts. However, memories are more prone to error. The possibilities for error described in this paper therefore also highlight the differences between remembering and imagining. These differences can provide new insights into the ongoing debate on mental time travel, which is currently dominated by two opposing theories: causal theories and simulation theories. The extended Kantian theory is a hybrid of the two.deAttribution 4.0 Internationalhttp://creativecommons.org/licenses/by/4.0/100 PhilosophieMentales ZeitreisenKantSubjektivitätstheorieErinnerungEinbildungskraftKonstruktionKausaltheorieSimulationstheorieMental time travelTranscendental subjectivityMemoryImaginationConstructionCausal theorySimulation theoryMentales Zeitreisen mit KantMental time travelling with KantMaster ThesisProf. Dr. Cord Friebeurn:nbn:de:hbz:467-69544